Talk about mit Ruth Hesse und Anja Baumbach-Kraft
Interview mit Ruth Hesse und Anja Baumbach-Kraft, Sozialministerium Schleswig-Holstein
vom 25. Februar 2022
Wie stark wird nach den Fördergeldern nachgefragt, bzw. wie viele Anträge werden im Durchschnitt pro Jahr gestellt?
Ruth Hesse und Anja Baumbach-Kraft: Seit 2018 sind bisher 40 Anträge an den Versorgungssicherungsfonds gestellt worden. Wir nehmen ein großes Interesse wahr. Im Rahmen der Pandemie ist die Zahl etwas zurückgegangen. Aktuell gibt es aber wieder viele neue Ideen bzw. Projekte die eingereicht oder angefragt werden. Ein Projekt kann über die Gesamtlaufzeit mit bis zu 500.000 € gefördert werden. Die Laufzeit ist auf 3 Jahre begrenzt. Aktuell kann pro Jahr mit rund 5 Mio. € gefördert werden. Bisher sind 28 Projekte durch den Versorgungssicherungsfonds gefördert worden, davon sind 4 Projekte bereits abgeschlossen, z. B. ViDiKi 2.0, Telemedizin im ländlichen Raum.
Was muss erfüllt sein, damit dem Antrag stattgegeben werden kann?
Ruth Hesse und Anja Baumbach-Kraft: Der Versorgungssicherungsfonds ist ein wichtiger Baustein für die Sicherung und den Erhalt der medizinischen Grundversorgung in der Fläche. Mit den Mitteln des Versorgungssicherungsfonds soll die qualitative Weiterentwicklung der ambulanten, stationären und sektorenverbindenden Versorgung beschleunigt werden. Die Projektidee muss den Vorgaben der Förderrichtlinie genügen. Diese sind jedoch sehr weit gefasst, sodass sehr unterschiedliche Projektideen gefördert werden könnten. Bevor ein Antrag gestellt wird, kann ein Austausch mit den Antragstellenden erfolgen, das empfehlen wir. Sie erhalten dann entsprechende Hinweise, was beachtet werden sollte, damit ein Projekt den Zielen einer möglichen Förderung entspricht. Reine klinische Studien werden durch den Versorgungssicherungsfonds beispielsweise nicht gefördert. Ebenfalls nicht förderungsfähig sind Projekte, die von einem Leistungserbringer alleine durchgeführt werden sollen.
Die Projekte, die durchgeführt werden, sind inhaltlich sehr unterschiedlich. Ist die flächendeckende Versorgung das Ziel der Projekte?
Ruth Hesse und Anja Baumbach-Kraft: Ziel von Gesundheitsminister Dr. Garg, bzw. der Landesregierung und damit auch Kernziel der Förderrichtlinie ist die angemessene, flächendeckende Versorgung. Gefördert werden innovative und zukunftsweisende Konzepte, die eine flächendeckende und gut erreichbare, bedarfsgerechte Versorgung erhalten, stärken oder diese unter veränderten Rahmenbedingungen weiterentwickeln. Dies bedeutet aber nicht, dass nur Projekte gefördert werden, die im ländlichen Raum oder in unterversorgten Gebieten stattfinden. Alle Projekte starten in der Regel regional, egal ob in einem Stadtgebiet oder in der Fläche. Die maximale Fördersumme beträgt 500.000 € und wäre in der Regel nicht ausreichend, um ein Projekt flächendeckend für ganz Schleswig-Holstein durchzuführen. Ärztenetze sind regional vernetzt, diese Strukturen bieten sich daher für regionale Projekte an. Unsere geförderten Projekte sollten aber auch in andere Regionen übertragbar sein. Bei Erfolg sollen die Projekte nach der Erprobung hoffentlich in die Regelversorgung überführt werden können.
Warum liegt ein großer Schwerpunkt auf digitalen Projekten? – Sektorenübergreifend und im ländlichen Raum.
Ruth Hesse und Anja Baumbach-Kraft: Weil in diesen Bereichen die größten Herausforderungen in der Versorgung bestehen. Mit dem Versorgungssicherungsfonds soll ein Beitrag geleistet werden, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Digitale Lösungen können hier einen wertvollen Beitrag leisten, indem sie die Kommunikation der Leistungserbringer verschiedener Sektoren unterstützen und benötigte Informationen zeitnah zur Verfügung gestellt werden können. Besonders im ländlichen Raum können solche Angebote den Zugang zu spezialisierter Versorgung erleichtern. Kerninhalte vieler Projekte sind die Zusammenarbeit, Verbesserung der Ausbildung, Digitalisierung von Abläufen und Stärkung der Patientenautonomie. Je nach Krankheitsbild oder Patientengruppe finden diese Elemente eine unterschiedliche Gewichtung. Durch die Digitalisierung ist das Einzugsgebiet (sektorenübergreifend und auch räumlich) leicht zu vergrößern. Das Epilepsie-Projekt ist z. B. ein digitales Modelprojekt, in dem Beratungs- und Edukationsangebot für betroffene Menschen, ihre Angehörigen sowie Leistungserbringer in ganz Schleswig-Holstein vereint sind. Auch das Tizian-Projekt (Telemedizinische gestützte Tagesklinik für Parkinson und Bewegungsstörungen der Segeberger Kliniken) hat ein großes Einzugsgebiet, es lebt von dem Wechsel zwischen Therapiephasen, die digital und vor Ort begleitet werden.
Wie nachhaltig sind die Projekte des Versorgungssicherungsfonds, bzgl. Struktur und Finanzierung? Was passiert nach der Laufzeit des Projektes?
Ruth Hesse und Anja Baumbach-Kraft: Der Versorgungssicherungsfonds schafft die Möglichkeit in einer Art „Vorreiter-Rolle“ in Schleswig-Holstein etwas auszuprobieren, das sich schon am Horizont abzeichnet, ohne alleine ins eigene Risiko zu gehen. Damit schaffen wir die Möglichkeit „vor der Welle“ zu sein und bereits vor Aufnahme in den Regelleistungskatalog belastbare Strukturen zu etablieren oder den Einführungsprozess zu beschleunigen. Dies wird u. A. beispielsweise mit dem Projekt Physician Assistants an der Westküste unterstützt. Dort werden Fachkräfte von morgen ausgebildet, welche Ärztinnen und Ärzte spürbar entlasten sollen. Diese sind bislang primär im stationären Bereich tätig. Durch die Projektförderung soll diese Berufsgruppe auch für Aufgaben in der ambulanten und sektorenübergreifenden Versorgung vorbereitet werden. Auch die Videosprechstunde wurde gezielt in verschiedene Projekte eingebunden, um die Überführung in die Regelversorgung zu unterstützen. Da die eigentliche Sprechstunde schon Gegenstand der Regelversorgung war, wurden die Sprechstundenleistungen über das Regelsystem abgerechnet. Die Projekte haben jedoch einen starken Anreiz gesetzt, die Sprechstunde auch in den Behandlungsalltag zu integrieren. Corona hat diesen Prozess zusätzlich in nicht erwartbarer Weise verstärkt.
Da ein Großteil der Projekte aktuell noch in der Umsetzungsphase ist, kann bzgl. der Nachhaltigkeit noch keine abschließende Aussage getroffen werden. Das Projekt ViDiKi 2.0 etwa konnte jedoch erfolgreich in einen Vertrag nach § 140 a überführt werden.
Case-Management, NÄPAs – dürfen diese z. B. durch ein Ärztenetz, MVZ oder eine Klinik finanziert werden?
Ruth Hesse und Anja Baumbach-Kraft: Der Einsatz von Case-Manager:innen ist Gegenstand mehrerer Projekte. Die Leistung der NäPä ist bereits in der Regelversorgung angekommen und im EBM entsprechend hinterlegt. Hier werden jedoch nur über die Regelversorgung hinausgehende Leistungen über den Versorgungssicherungsfonds finanziert. Wir hoffen, dass NäPas und Physician Assistants in Zukunft deutlich mehr eingesetzt werden, um die Versorgung zu verbessern. Aktuell bestehende Hürden sollten daher möglichst zeitnah ausgeräumt werden. So gibt es aktuell z. B. keine Probleme, solange die NäPa bei einem Arzt angestellt ist. Innerhalb der Projektzeit des Innovationsfonds-Projektes RubiN sind die Versorgungsmanager:innen jedoch bei den teilnehmenden Ärztenetzen angestellt gewesen. Hier gibt es noch offene Fragestellungen, denn es ist nicht geklärt, wie die Beteiligten abgesichert sind.
Gibt es Projekte, die über den Projektstatus hinausgehen? Sind diese nur durch einen §140 a SGB V Vertrag finanzierbar oder gibt es auch noch Alternativen?
Ruth Hesse und Anja Baumbach-Kraft: Ein Ziel des Fonds ist es, dass Projekte, die sich während der Förderphase bewähren, anschließend auch in die Regel-Versorgung und -Finanzierung weiterlaufen können. Das ist eine Herausforderung und daran arbeiten die Beteiligten. §140 a SGB V-Verträge sind eine Möglichkeit, die von den Krankenkassen nicht gerne gewählt wird. Häufig wird auf die Schwierigkeit der Messung der Wirtschaftlichkeit (Zeitraum zu kurz bemessen) und auf das BAS (Bundesamt für Soziale Sicherung) verwiesen. Der Umfang der Evaluation spielt für die Weiterführung und Vertragsabschlüsse eine wichtige Rolle. Reichen die Ergebnisse nicht aus, werden in einem möglichen Vertrag über §140 a SGB V weitere Daten erhoben. Vidiki 2.0 könnte als 140er-Vertrag fortgeführt werden. Im Projekt Telemedizin im ländlichen Raum wurde von Anfang an ein solcher Selektivvertrag vereinbart, welcher nach Abschluss des Projekts weitergeführt wurde.
Gibt es seitens des Ministeriums Projekte, die wünschenswert wären? Bedarfsplanung 2030
Ruth Hesse und Anja Baumbach-Kraft: Die von der KV SH geplante „Praxis ohne Arzt“ in Dagebüll ist ein wünschenswertes Projekt, das leider bisher an der Haftungsfrage gescheitert ist. Es wäre ein Vorreiter für die „Gemeindeschwester/Community Health Nurse“, die zurzeit von verschiedensten Akteuren für die Zukunft propagiert wird und auch in den Koalitionsvertrag auf Bundesebene aufgenommen wurde.
Sonst wünschen wir uns Projekte, die das Zusammenspiel zwischen Lebensstil, Gesundheit und Prävention in den Fokus rücken, wie z. B. HEUREKA. Das Projekt hat sehr stark unter der Pandemie-Situation gelitten und sollte stärker bei Kinder- und Hausärzt:innen bekannt gemacht werden.
Weiter wären Projekte wünschenswert, die sich mit der Aufarbeitung der Corona-Pandemie insbesondere bei Kindern und Jugendlichen befassen. Die Kinder sind nicht alle krank, sie müssen aber gegebenenfalls ins Leben zurückgeführt werden, damit durchaus bestehende psychische Belastungen durch die Herausforderungen der Pandemie sich nicht zu chronischen Erkrankungen entwickeln.
Darüber hinaus hat Minister Dr. Garg für die Ampel-Koalition auf Bundesebene das Thema Gesundheit mitverhandelt. Der Versorgungssicherungsfonds bietet die Möglichkeit, darin genannte Vorhaben frühzeitig umzusetzen.
Welche Projekte wären unter dem Gesichtspunkt Qualitätssicherung besonders hervorzuheben?
Ruth Hesse und Anja Baumbach-Kraft: Qualitätssicherung ist weniger das Kernthema des Versorgungsicherungsfonds. Wenn Sie uns jetzt so fragen könnten folgende Projekte aber durchaus genannt werden:
- SekMa – Sektorenübergreifende Organisation des Entlassmanagements. Ziel des Projektes ist es, die internen Krankenhaus-Entlassmanagment-Prozesse und die Aufnahme-Prozesse in den Pflegeheimen optimal aufeinander abzustimmen. Damit können Drehtür-Effekte verhindert werden.
- Heureka – Haus- und Kinderarztgeleitete Erfassung und Einsteuerung in ein umfassendes, strukturiertes, individuelles und regionales Empowerment-Konzept mit Case-Management für Kinder und Jugendliche mit Adipositas. Die Behandlung erfolgt multimodal und wird beständig angepasst. Die umfassende Nachsorge sichert langfristig die Erfolge der Behandlung.
- Sektorübergreifende Versorgung invasiver Eingriffe und OPs. In diesem Projekt werden OP und Eingriffsräume des Städtischen Krankenhauses Kiel gemeinsam mit niedergelassen Ärzt:innen genutzt. Für die sektorenübergreifende Zusammenarbeit wird eine digitale Organisationsstruktur geschaffen, die die Anforderungen der Datensicherheit sicherstellt und zu einer erhöhten Patientensicherheit beiträgt.
Welche Projekte haben die ambulante, stationäre und sektorenübergreifende Versorgung besonders gefördert?
Ruth Hesse und Anja Baumbach-Kraft: Nennenswert ist hier ASTRaL, ein Folge-Projekt zum Thema „Telemedizin im ländlichen Raum“. Das Erstprojekt wurde ausgeweitet auf ein asynchrones telemedizinisches Verfahren für die Dermatologie und Augenheilkunde sowie mit weiteren Fachdisziplinen, z. B. Rheumatologen. Dadurch können lange Wartezeiten auf die Expertise eines Gebietsspezialisten reduziert werden.
Für die Logopädische Ambulanz der IBAF-Schule für Logopädie konnte mit Hilfe der Finanzierung aus dem VSF für ein Jahr der Betrieb aufrechterhalten und somit die Versorgung und die Logopädie-Ausbildung abgesichert werden, bevor das UK SH die Trägerschaft der Schule ab 2020 übernommen hat. Im Rahmen des Förderprojekts haben Logopäd:innen Pädiater:innen geschult und gemeinsame Therapiekonzepte für Kinder entwickelt.
Wie bereits erwähnt, befindet sich ein Großteil der Projekte noch in der Umsetzung. Einige Projekte sind unter der Corona-Pandemie außerdem verlängert worden, da es viele Einschränkungen für die Umsetzung gegeben hat. Wir sind daher auf die Erfahrungen und Ergebnisse noch gespannt. Wir freuen uns auf weitere innovative Projekte, die Förderrichtlinie läuft noch bis Ende Februar 2023.
Das Gespräch wurde von Dr. Claudia Ehrenhofer und Yvonne Leichsenring geführt.
Anregung: Nähere Info unter https://www.schleswig-holstein.de/DE/fachinhalte/G/gesundheitsdienste/Versorgungssicherungsfonds.html
Kurzvita Ruth Hesse
Leitung des Referats für ambulante und sektorenübergreifende Versorgung am Sozialministerium Schleswig-Holstein sowie seit Dezember 2020 Leitung der Projektgruppe zum Aufbau landesweiter Impfzentren
- bis 2012 Studium der Rechtswissenschaften in Kiel und Thessaloniki
- 2013 bis 2015 Referendariat und Masterstudium Medizinrecht in Essen und Düsseldorf, bereits hier wurde durch Stationen bei der Ärztekammer, einer auf das Medizinrecht spezialisierten Kanzlei und dem Sozialgericht Düsseldorf ein besonderer Schwerpunkt gesetzt.
- 2015 bis 2016 anwaltliche Tätigkeit für eine medizinrechtliche Kanzlei in Düsseldorf
- 2017 bis 2018 Tätigkeit in der Rechtsabteilung des gemeinsamen Bundesausschusses in Berlin
- seit 2019 Leitung des Referats für ambulante und sektorenübergreifende Versorgung am Sozialministerium Schleswig-Holstein sowie seit Dezember 2020 Leitung der Projektgruppe zum Aufbau landesweiter Impfzentren
Kurzvita Anja Baumbach-Kraft
Referat für ambulante und sektorenübergreifende Versorgung am Sozialministerium Schleswig-Holstein, Schwerpunkt ist aktuell die Projektförderung im Rahmen des Versorgungssicherungsfonds
- bis 2012 Studium der Gesundheitswissenschaften in Hamburg und Esbjerg, DK
- 2013 – 2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld
- 2016 – 2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin für die Osteopathieschule Deutschland
- seit 2019 tätig im Referat für ambulante und sektorenübergreifende Versorgung am Sozialministerium Schleswig-Holstein, Schwerpunkt ist aktuell die Projektförderung im Rahmen des Versorgungssicherungsfonds
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